Ethik beim Schreiben

Die Ethik beim Schreiben beschäftigte schon Aristoteles. Er gibt uns in seinem Buch "Poetik" einen Leitfaden für das Schreiben von Poesie, auch wenn er sich vor allem auf die Tragödie bezieht, also das Schreiben von Stücken. Das Lesen soll Lust bereiten.
by Andreas Morlok/ pixelio.de

Die Ethik beim Schreiben beschäftigte schon Aristoteles. Er gibt uns in seinem Buch “Poetik” einen Leitfaden für das Schreiben von Poesie, auch wenn er sich vor allem auf die Tragödie bezieht, also das Schreiben von Stücken. Das Lesen soll Lust bereiten. Die traurigen Episoden können ruhig zum Weinen führen, denn Tränen reinigen die Seele. Damit vermittelt er uns etwas sehr Wesentliches: Tränen sind gut, doch sie sind nicht die Hauptsache. Hauptsächlich ist die Freude am Lesen, Anhören oder Ansehen.

Der erste Ethiker der Geschichte war Sokrates. Zuvor gab es Riten und Sitten, deren Nichtbefolgung zu einer Strafe führte. Das Schicksal des Menschen war bestimmt von äußeren Einflüssen. Heraklit erst verbindet es mit der Seele. Sokrates dann hob die geltende Moral auf eine philosophische Ebene und nannte die Befassung damit Ethik. Bei ihm ging es darum, Glückseligkeit (Eudaimonia) zu finden über Selbstverwirklichung. Dem folgte auch Aristoteles. Für ihn ist Glückseligkeit das höchste Gut, nach dem der Mensch streben kann. Wir finden sie in uns selbst, weshalb der Selbstverwirklichung ein hoher Stellenwert zukommt. Einen guten Überblick über die Verhaltensweisen, die uns immer wieder davon abbringen oder zumindest ablenken, finden wir hier bei Dr. Klaus Heck. Das sind die wesentlichen Dinge, mit denen wir Autoren uns in unseren Büchern befassen sollten. Eine Entwicklung der Figuren im Sinne der Selbstverwirklichung ist eine ethische Frage, wenn wir uns der antiken Ethik zuwenden.

Das Christentum wandte sich von der Ethik des Sokrates ab. Das Gute und das Böse in der Ethik beim Schreiben ward geboren. Die Erbsünde kam in die Welt. Die böse Schlange verführte Eva und Adam, der Biss in den Apfel zeigt unseren Ungehorsam. Wir aßen vom Baum der Erkenntnis und flogen aus dem Paradies, weil wir böse waren. So lernten wir, was das Böse ist, und es folgte die Scham. Fortan bedeckten wir uns zumindest mit einem Feigenblatt. Christen fordern eine Beurteilung der Figuren als gut oder böse. Diese Beurteilung kann schnell zu einer Verurteilung führen. So finden wir heute Romane wie “Wie der Stahl gehärtet wurde”, in denen sich die Charaktere nicht entwickeln, sondern als gut und böse charakterisiert stehen bleiben und natürlich die bösen Menschen zu verurteilen sind.

Immanuel Kant schließlich brach endgültig mit der antiken Auffassung von Ethik. Für ihn steht die Pflichterfüllung über allem, vor allem die Pflichterfüllung gegenüber dem Staat. Damit wurde er zu einem ideologischen Vorreiter des deutschen Nationalsozialismus mit seinem Antisemitismus, der zum Vernichtungsfeldzug gegen die Juden ausartete. Schließlich begründeten die Ausführenden alle Verbrechen von Auschwitz z.B. mit der Pflichterfüllung, der sie sich beugen mussten. Keine Spur mehr von Eigenverantwortung, die unsere Selbstverwirklichung begleitet. Nach Kant durfte die Pflichterfüllung keine Freude bereiten. Sie ist eine Last, die wir Menschen ungern auf uns nehmen. Nur dann ist es moralisch. Die Kantsche Ethik führt in eine Irre, die viel Leid verursachte. Beim Schreiben sollten wir uns lieber der antiken Ethik des Sokrates und Aristoteles zuwenden.

Schließlich sind die deutschen Romantiker zu erwähnen. Sie waren Kyniker und fühlten sich der antiken Ethik der Selbstverwirklichung auf dem Weg zur vollkommenen Glückseligkeit verpflichtet. Dazu gehört eine enge Verbindung zu Gott. Ein kontemplatives Leben ist nach der Auffassung Aristoteles eine der wichtigsten Tugenden, die uns in der Selbstverwirklichung begleiten. Für Kyniker gibt es nur eine Tugend: die Parrhesia, hier wieder nach Dr. Klaus Heck. Parrhesia bedeutet, die Wahrheit über sich sagen. Sie ist der Weg zu Eudaimonia, zur Glückseligkeit. Besonders der romantische Poet und Philosoph Novalis zeigt uns, wie wir in der Literatur verwirklichen können, was Ethik beim Schreiben bedeutet.

Ethik beim Schreiben als Anspruch an die Autoren

Philosophen stellen Fragen. Und so gibt es viele Fragen an Autoren, die Ethik beim Schreiben betreffend. Sie sollen uns eine Antwort darauf geben, was wir dürfen oder müssen. So folgen Fragen wie:

Was ist ein sittlich gutes Leben als Autor?

Was für einen Charakter soll ein Autor haben?

Welche Handlungen soll ein Autor unterlassen?

Welche Handlungen soll ein Autor vornehmen?

Die heutige westliche Ethik, der christlichen Lehre immer noch verbunden durch das Gute und das Böse, wenn auch zunehmend von Atheisten besprochen, zieht eine Grenze zwischen Geboten und Verboten. Es ist eine Grenzziehung zwischen dem Lobenswerten (gut) und dem Tadelnswerten (böse). Wir sind also mitten drin in der Beurteilung von Gut und Böse. Und so führt die Frage nach einem sittlich guten Leben selbstverständlich zu einer Ablehnung des Bösen, durch das wir Schuld auf uns laden.

Siehe auch das “Vater unser”: “Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.” So mächtig, wie die Vergebung in der Welt wirkt, um so fragwürdiger ist unsere Schuld. Wenn wir uns von der Beurteilung als gut und böse trennen und der antiken Ethik der Selbstverwirklichung zuwenden, laden wir keine Schuld auf uns, denn die Welt ist gut, also ist auch der Mensch gut. Wir haben Schuldgefühle, die Gott uns nehmen kann. Deshalb hieße es besser im “Vater unser”: “Und vergib uns unsere Schuldgefühle, wie auch wir vergeben die Schuldgefühle der anderen.” Es geht also um Gefühle der Menschen in bezug auf ein sittlich gutes Leben.

Der Journalist des Guardian, Leo Hickmann, unternahm einen Selbstversuch, indem er ein Jahr ethisch korrekt leben wollte. Er legte “ethisch korrekt” vor allem ökologisch aus. Wir Menschen belasten durch unser Handeln ständig die Umwelt, die Natur. Wenn wir mit diesem Handeln aufhören, erholt sich die Natur von ganz allein. Es bedarf also keines menschlichen Tuns, um die Natur zu heilen, es bedarf nur eines Ablassens von schädlichen Handlungen. Insofern ist Leo Hickman konsequent mit seinem Karbonbrief, der das weitere Einbringen von CO2 in die Athmosphäre unterbinden will.

Es wäre also ethisch korrekt, CO2 in der Athmosphäre komplett zu eleminieren? Dazu sage ich “Nein!”. Pflanzen benötigen CO2, um zu überleben. Das ist ein Beispiel dafür, dass dieses Gas seine guten Seiten hat. Außerdem weist die Wissenschaft zwar eine Korrelation zwischen der Erderwärmung und der CO2- Konzentration in der Athmosphäre nach, aber bisher keine Kausalität zwischen diesen beiden Ereignissen. Es kann also durchaus sein, dass das CO2 gar nicht die Ursache für die Erderwärmung ist.

Wenn das so wäre, wären die Bemühungen um die CO2- Einsparung unethisch aus zweierlei Gründen: Erstens bringen sie für viele Menschen Überforderung und Leid, zum Beispiel durch Arbeitsplatzverlust, mit sich, zum anderen versäumen wir, uns an die Klimaveränderung ausreichend anzupassen, was tötlich für die ganze Menschheit enden könnte, denn es überlebt derjenige, der die beste Anpassungsfähigkeit besitzt. Das gilt in jedem Fall, denn der Mensch kann die Erderwärmung nicht verhindern, er kann sie allerhöchstens verlangsamen. Jedenfalls hoffen wir das. Autoren sind ethisch gut beraten, bei der Befassung mit dem Klimathema die Anpassungsfähigkeit zu thematisieren.

Der Charakter eines Autors

Was machen wir Autoren nun mit dieser Ethik beim Schreiben, wenn ethisch korrektes Leben gar nicht so einfach ist und auch hier die Medaille immer zwei Seiten hat? Zum Beispiel die Windenergie. Durch sie wird der CO2 Ausstoß verringert, weil Kohlekraftwerke stillgelegt werden können. Andererseits verändern sie großflächig den Wind über der Erde, denn sie entziehen der Atmosphäre Windenergie. Das führt schlussendlich zu ausgedehnten Dürren. Aus dieser Falle kommen wir nicht heraus, so lange wir uns in der Gut- Böse- Anschauung befinden oder sogar in der Pflichterfüllung eines Kant. Dass diese Pflichterfüllung zu Auschwitz geführt hatte, bemerkte ich schon. Die Judenvernichtung war unfraglich unethisch, doch die Ethik eines Kant begründete sie.

Ich fordere die Autoren auf, sich ethisch wieder auf Aristoteles einzulassen. Er befürwortet in seiner Nikomachischen Ethik das Maßhalten. Übertreibungen egal in welche Richtung müssen unterbleiben: also Windenergie ja, aber nicht zu viel. Wenn wir dem folgen, sind unsere Figuren in der Poesie weder gut noch böse, sondern befinden sich auf einer unterschiedlichen Stufe ihrer Selbstverwirklichung auf dem Weg zur vollkommenen Glückseligkeit. Sie sollen sich im Verlauf der poetischen Abhandlung entwickeln. Um das darzustellen, ist es wichtig, dass wir Autoren selbstverständlich unseren eigenen Charakter hinterfragen. Beurteilen wir ständig nach gut und böse? Die Welt ist gut, die Natur ist gut und auch der Mensch ist in seinem Wesen gut. Deshalb müssen wir die Gut- Böse- Dynamik preisgeben.

Weiter zum Autorencharakter: Sind wir offen für Entwicklung? Haben wir eine enge Verbindung zu Gott? Wenn nicht, lassen wir das Schreiben lieber sein. Mit Novalis im übertragenen Sinne gesprochen, produzieren wir dann nur Dreck. Davon gibt es schon genug, also unterlassen wir es besser.

Ethik beim Schreiben und die Handlungen der Autoren

Die Handlungen der Autoren offenbaren sich beim Schreiben. Engstirnige oder bornierte Menschen oder Fatalisten sind schlechte Autoren. Unsere Literatur soll Weite vermitteln und Alternativen aufzeigen. Wir haben als Menschen immer mehrere Möglichkeiten, uns in einer Situation zu verhalten. Autoren sollen das in ihrer Literatur aufzeigen und einen Eindruck von der Offenheit der Welt vermitteln. Damit machen wir das Leben farbenfroh, bieten Konturen wie Licht und Schatten und gewichten die Handlungen unserer Figuren. Wie das Wort gewichten zeigt, steckt das Wörtchen wichtig darin. Wenn unsere Werke etwas Wichtiges vermitteln sollen, dann gelingt uns das nur, wenn uns selbst etwas wichtig ist.

Der Ruf nach Ethik beim Schreiben erfolgt, weil die Menschen sich Entscheidungskriterien wünschen angesichts einer Überflutung mit Literatur wie durch die Medien. Die Erwartung an ein gutes Buch oder eine gute Geschichte besteht darin, eine Erweiterung möglicher Handlungen aufzuzeigen. Ein “es ist alternativlos” oder “nur so geht es” wird zunehmend weniger akzeptiert. Die intellektuelle Elite geht dabei voran, indem sie die Handlungen hinterfragt. Zunehmend schließt sich die allgemeine Leserschaft dem an. Damit entfalten die Autoren mit den Handlungen in ihrer Literatur Wirkungen in der Gesellchaft.

Eine grundlegende Frage ist, wie die Schreibenden die Macht ausüben, die sie besitzen? Ein Buch, eine Novelle oder ein Theaterstück können immer nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit beschreiben oder sie bewegen sich im Bereich der Utopie oder der Märchen, der Fantasie. In jedem Fall muss den Schreibenden bewusst sein, dass das geschriebene Wort Wirkungen entfaltet, auch unbewusste. Ein guter Autor spielt mit dem Unbewussten ohne den Leser zu manipulieren oder zu instrumentalisieren.

Dabei sind unterschiedliche Perspektiven wichtig, die unbedingt offen gehalten werden müssen. Wahrheit ist immer relativ und subjektiv, weshalb offene Perspektiven unerlässlich sind. Und an dieser Stelle liegt die Verantwortung nicht nur beim Autor, sondern auch bei den Verlagen, die oftmals eine Perspektivverengung vornehmen. Ebenfalls liegt Verantwortung bei denjenigen, welche die Bücher verkaufen. Sowohl Verlage als auch Buchhändler sind gut beraten, eine Long Tail Politik zu machen. Einen langen Schwanz haben bedeutet dabei, viele verschiedene Bücher zu verkaufen und nicht nur die angeblichen Bestseller. Wenn Sie 1000 unterschiedliche Bücher verkaufen, haben sie genauso viel, als wenn sie 1000 mal denselben Bestseller verkaufen. Die Öffnung der Perspektiven wird größer bei vielfältig gemischter Literatur als bei Schmalspurangeboten. Das wiederum hat etwas mit den Wirkungen von Literatur und damit auch mit der Ethik beim Schreiben zu tun.

Verantwortung haben natürlich auch die Leser. Wenn sie in der Buchhandlung immer nur zu den beworbenen Bestsellern greifen oder immer nur den durch Werbung bekannten Autor kaufen, dann verengen sie automatisch ihr eigenes Weltbild. Machen wir uns doch nichts vor: Die Krimis von Nele Neuhaus ähneln sich doch alle irgendwie, oder?

Immer der gleiche Griff ist natürlich rational, spart Energie. Doch das Stöbern im Bücherregal macht ebenfalls Spaß. Ich suche deshalb immer gern eine Buchhandlung auf. Da kann ich die auserwählten Bücher einmal in die Hand nehmen, ihre Energie spüren, über das Papier streichen und die Qualität fühlen. Ich entwickle eine Empfindung für die Seele eines Buches, indem ich es aufschlage und kurz darin lese. Das verhindert unbedingt eine Täuschung.

Wohlgefühl in der Ethik des Schreibens

Wohlgefühl ist ein Zauberwort. Wenn ich mich beim Schreiben wohlfühle, vergesse ich die Welt um mich herum. Da vergeht die Zeit im Fluge und nichts, absolut nichts, kann mich erschüttern, passiere um mich herum was will. Dieses Wohlgefühl überträgt sich auf mein Schreiben und weiter auf den Leser. Ich kann vermitteln, was mir wichtig ist. Fühlt sich der Leser nicht wohl, beendet er das Lesen. Damit ist eine Chance vertan, Perspektiven zu öffnen.

Ich komme noch einmal auf Aristoteles zurück. Nach ihm sollen sich die handelnden Figuren entwickeln und diese Entwicklungen den Leser aufmerken lassen. In der Nikomachischen Ethik von Aristoteles definiert er die ethischen Tugenden als ein Gleichmaß, als das richtige Treffen der Mitte zwischen Übermaß und Mangel, zwischen dem Außergewöhnlichen und dem seichten Dahingehen. Die Auswahl bestimmen wir nach unserer Aufmerksamkeit, die von dem Außergewöhnlichen besonders angezogen wird. Der Kampf um Aufmerksamkeit führt in der Literatur zu einer Steigerung ins Extreme. Wir brauchen Spannung, dann aber auch wieder Entspannung. Übertriebene Spannung oder ständig anhaltende Spannung ermüden. Dabei soll das Lesen ein Wohlgefühl erzeugen, Lust machen. Es gilt, das richtige Maß zu finden.

Wir fühlen uns nicht wohl beim Schreiben wie Lesen, wenn Literatur nur noch dem Außergewöhnlichen zugeneigt ist. Das hebt die Spannung, fällt dann aber auch wieder ab. So sind wir in einem Wechselbad der Gefühle, das uns zunehmend erschöpft. Wohlfühlen geht anders.

Auf alle trifft das zu, was Aristoteles zu den Figuren in der Tragödie feststellte: Jede steht an anderer Stelle ihrer Entwicklung. Der Mörder steht eher am Beginn des Weges, ein Weiser ist schon sehr weit gekommen. Man kann auch wieder zurück fallen, also zum Mörder werden. Autoren, Verleger, Buchhändler, Leser sind auf unterschiedlichen Stufen der Selbstverwirklichung, weshalb es auch Literatur für alle Stufen geben muss. Das trifft zumindest auf die Poetik zu, welche sich der aristoteleschen Ethik verpflichtet fühlt.