
Und wie! Märchen gehören zu den frühesten erotischen Geschichten. Das ist mit ein Grund, warum Autoren Märchen für Erwachsene schreiben und nicht für Kinder. Beim abendlichen Kerzenschein erzählte sich das Volk Märchen, wenn die Kinder bereits schliefen. Auch in adligen Häusern erzählten die Menschen sich Märchen. Im deutschen Kulturkreis heute sind es unter anderem die “Kinder- und Hausmärchen” der Gebrüder Grimm, die Eltern und Großeltern Kindern erzählen. Sie erstrahlen auch in vielen Filmen. Märchen und Erotik sind auch darin ein Thema. Dabei schauten die Grimms gar nicht wirklich dem Volk aufs Maul. Sie nutzten vielfach bereits bestehende literarische Vorlagen und veränderten diese Märchenerzählungen. Heute in moderner Zeit wären die Gebrüder Grimm Plagiaten mit eigenen Erzählelementen.
Die Märchen der Gebrüder Grimm enthalten erotische Momente, wie auch die aus dem östlichen Kulturkreis stammenden Märchen aus tausendundeiner Nacht. Sie kommen auch heute noch zum Tragen, obwohl die Verfasser im Bestreben um eine “kindgerechte” Fassung viel Erotik heraus strichen. Durch dieses Streichen sind allerdings einige Fragezeichen in den Märchenerzählungen erstanden, die sich durch erotische Aussagen erklären lassen, was wiederum besonders erotisierend ist.
Märchen und Erotik weisen wir oftmals weit von uns. Das ist ein Irrtum. Die bekannten Märchen Schneewitchen, Rotkäppchen, Dornröschen, Aschenbrödel, Rapunzel und der Froschkönig zeigen deutliche erotische Momente. Die Märchen sind vielschichtig, vereinen also Aussagen zu vielen Bereichen des Lebens. So thematisiert das Märchen Dornröschen den Übergang vom Matriarchat zum Patriarchat. Doch in diesem Artikel geht es allein um Märchen und Erotik.
Rotkäppchen
InRotkäppchen geht es um die Verführung einer jungen Frau, eines Mädchens, durch einen Fremden. Zu Grunde liegt wahrscheinlich eine im italienischen Raum mündlich überlieferte Erzählung, die später vom Franzosen Charles Perrault schriftlich niedergelegt wurde. Von dem übernahmen dann die Gebrüder Grimm das Märchen, wie auch Dornröschen und das Aschenbrödel. Im Ursprungsmärchen wird die Tochter mit roter Kappe, welche durch die Farbe Rot bereits aufzeigt, dass die Erotik des Mädchens entwickelt ist, zur Großmutter im gefährlichen Wald geschickt. Angemerkt sei, dass im Mittelalter der mitteleuropäische Wald von den Menschen tatsächlich als unheimlich und gefährlich angesehen wurde. Das zieht sich durch viele Märchen der Gebrüder Grimm.
Doch weiter zum Ursprung von Rotkäppchen. Das Mädchen hat Lebensmittel dabei zum Tausch gegen unterschiedliche Gefahren, die im Wald lauern. Endlich im Haus der Großmutter erwartet sie der Wolf. Rotkäppchen soll zu ihm ins Bett kommen, was den erotischen Charakter schon sehr klar unterstreicht. Es beginnt der berühmte Dialog zwischen den beiden. Zunächst lässt sich Rotkäppchen überlisten, doch dann entdeckt es den Schwanz und beschließt nun, das Ungeheuer zu überlisten. Das Mädchen verhandelt und erklärt, es müsse noch einmal auf die Toilette gehen. Diesen Weg benutzt es, um zu entfliehen. Die Tauschgeschäfte vom Weg zur Großmutter erleichtern die Flucht durch den wiederum unheimlichen Wald. Rotkäppchen kann entkommen. Es überlistet den Verführer und kann seine Unschuld behalten. Dieses Ursprungsmärchen kann uns heute immer noch vieles lehren.
Perrault dagegen, der das Märchen als Erzählung für den französischen Hof aufbereitete, machte aus der selbstbewussten jungen Frau ein naives kleines Mädchen, das sich im Haus der Großmutter nackt ausziehen muss und schlussendlich nicht gerettet wird. Wer einmal seine Unschuld verloren hat, kann sie nicht mehr zurück holen.
Bei den Gebrüdern Grimm schließlich wird das naive kleine Mädchen ungehorsam gegenüber der Mutter und pflückt im Wald Blumen, wodurch die Chancen des Wolfs steigen. Schließlich im Haus der Großmutter zieht der Wolf Rotkäppchen ins Bett und frisst sie auf, was sowohl eine Verführung als auch eine Vergewaltigung bedeuten kann. Doch hier wird das Mädchen am Ende errettet, was die Deutung zulässt, dass das Leben auch nach dem Verlust der Unschuld, der Jungfräulichkeit, lebenswert ist.
Weitere Märchen der Gebrüder Grimm
In den anderen genannten Märchen geht es um die Adoleszenz, also den psychischen und emotionalen Entwicklungsprozess einer Teenagerin, ihre seelische Reife. Im Mittelpunkt der Märchen steht jeweils ein junges Mädchen zwischen etwa 13 und 21 Jahren in ihrer geistigen Entwicklung.
Im Märchen Aschenbrödel muss es viele Demütigungen seitens der Stiefmutter über sich ergehen lassen, verzweifelt aber nicht. Am Ende sind es die eigene Lieblichkeit und der Glaube an die Güte der verstorbenen Mutter, die das Mädchen den Prinzen finden lassen, der sie liebt. Jede Begegnung mit dem Prinzen lässt die erotische Ausstrahlung von Aschenbrödel erstrahlen durch die Armseligkeit, in der es lebt, hindurch.
Das Märchen Schneewittchen thematisiert den erotische Mutter- Tochterkonflikt. Wer ist die Schönste im ganzen Land? Wer ist die erotischere Frau? Der Handel zwischen Schneewittchen und dem Jäger offenbart ebenfalls erotische Momente. Besonders der Aufenthalt bei den sieben Zwergen zeigt viele erotische Nuancen insbesondere bei den Treffen zwischen Königin und Stieftochter. Schließlich fällt Schneewittchen in einen todesähnlichen Schlaf, aus dem sie durch den Kuss eines Prinzen erweckt wird. Der Schlaf symbolisiert die letztliche Loslösung von der Mutter, der Kuss das Ende sowohl der Pubertät als auch der Adoleszenz.
Das Märchen Dornröschen geht ebenfalls auf eine Erzählung aus Italien rund 200 Jahre vor den Gebrüdern Grimm zurück, die Charles Perrault bearbeitete, und betont die Herrschaft des Mannes über die Frau. Der König befiehlt und die Frauen müssen folgen, alle. Erotisch wird die Liebe der Tochter zum Vater beschrieben, der sie sich aber entzieht und ungehorsam wird. Mitten in Pubertät und Adoleszenz löst sie sich vom Vater und fällt wie bei Schneewittchen in einen tiefen anhaltenden Schlaf. Sie kann also ihre weitere körperliche wie seelische Entwicklung frei von Beeinflussungen der Eltern durchleben. Ein Prinzenkuss erweckt auch Dornröschen. Sie ist eine reife Frau, die der Prinzen liebt, wie sie ist.
In Rapunzel erleben wir wieder einen Mutter- Tochter- Konflikt. Die Tochter liebt ihre Mutter, die gar nicht ihre wahre Mutter ist. Und das, obwohl Rapunzel im Turm eingesperrt wurde. Die sich erotisch entwickelnde Tochter wird vor der Welt versteckt. Doch schließlich kann sie sich von der falschen Mutter lösen, bekommt ihren Prinzen und findet ihre tatsächlichen Eltern, denen sie als erwachsene Frau selbstbewusst gegenüber tritt.
Spannend ist der Froschkönig. Erotisierend im Ursprungsmärchen ist schon die am Brunnen spielende junge Frau, die später im Märchen zu einem kleinen Mädchen verniedlicht wurde. Sie gehorcht dem Vater und nimmt den Frosch mit zu sich ins Schlafzimmer. Der König tritt also als Verkuppler auf, der seine sich im Prozess der körperlichen wie seelischen Veränderung befindliche Tochter an einen Mann verkauft. Doch als der Frosch sogar in das Bett der Königstochter will, schmeißt sie ihn an die Wand, wodurch er sich zu einem Prinzen zurück verwandelt. Auch hier findet die reife Frau die Liebe trotz aller Irrungen und Wirrungen des Heranwachsens.
Märchen und Erotik passen also zusammen. Der PROGRESS Verlag Turmalinklang ermunterte deshalb die Autorin Michaela Bindernagel, ihre erotischen Geschichten als Buch zu veröffentlichen.